Meine Augen können nichts vernehmen. Ich werde lediglich geblendet, alles ist in weiß getaucht, nur ich komme mir so anders vor, so fremd. In der Ferne vernehme ich den Gesang eines Mannes, dessen Anfang ich nicht gehört habe, dessen Ende umso deutlicher ich verstehe.

 

„…doch es liegt etwas Bedrohliches in der Luft,

 

es wird entladen, schon bald seine volle Wucht.

 

Doch bis dahin wird viel Zeit vergehen,

 

Zeit, viel Neues zu erleben und zu sehen.

 

Dies soll keine Drohung sein, nein, keineswegs,

 

schlussendlich kaum meine Meinung zählt.“

 

Nach diesen Zeilen erlischt die Stimme des Mannes und es beginnt nach Regen zu riechen. Zuerst spüre ich nichts, doch dann landet jeder Regentropfen mit einem harten Aufprall auf meiner Haut. Ich schließe die Augen und als ich sie wieder öffne, stehe ich inmitten eines kleinen Waldes. Nirgendwo ist auch nur eine Menschenseele. Obwohl mir diese Straßen so fremd vorkommen, wissen meine Beine, wohin sie gehen müssen. Es wird immer lauter und viele Menschen stehen versammelt um eine riesige Eiche. Nur ein Mann steht abseits der Gruppe, wo ihn niemand sehen kann. Er selbst trägt eine Schürze und kniet neben einer Frau, die am Boden liegt. Ich nähere mich, aber der Mann scheint mich nicht zu sehen, er starrt unbeirrt auf die Frau am Boden und versucht irgendwie das Blut, das aus ihrem Kopf fließt, zu beseitigen. Nur zögerlich trete ich näher. Als ich der Frau ins Gesicht blicke, überkommt mich ein Schauer. Die tote Frau am Boden ist mein Ebenbild. Voller Angst renne ich zu der Menschenmenge. Ich versuche zu schreien, doch es kommt mir vor, als ob ein Vakuum mich umgäbe. Die Menschen schenken mir keine Beachtung. Sie sind damit beschäftigt etwas im Baum zu suchen. Doch sie tun es vergeblich. Die Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken und reflektieren einen Strahl aus dem Baum. Als ich genauer hingucke, sehe ich eine menschliche Gestalt im Baum sitzen. Unter dem Menschen wird es ruhig. Ein Mann tritt hervor und ruft in Richtung des Baumes: „Andri, du bist kein Jud, so komm doch herunter. Du bist einer von uns…ein Andorraner. Diese Schwarzen, sie können dir nichts. Bitte mein Sohn, komm herunter.“ Jetzt erkenne ich den Mann. Es ist Can. Es überkommt mich eine Wut und ich renne zu ihm. Doch er wird von Soldaten in schwarzer Uniform abgeführt. Ein Mann im Arztkittel antwortet sogleich :„Hört nicht auf ihn, er weiß nicht, was er redet.“

 

In diesem Augenblick fängt es an zu schneien. Große Schneeflocken fallen vom Himmel und decken alles in Weiß. Die Soldaten ziehen sich zurück und lassen die Menschen allein. Gleichzeitig verliert der Baum seine Blätter und das Versteck des Jungen wird freigegeben.  Sofort ruft einer: „ Dort ist er, das ist der Jud. Holen wir ihn herunter.“ Und dann geschieht etwas, das ich selber nicht begreifen kann. Die Menschen verwandeln sich in Termiten und eilen zur Eiche hin. Nach kurzer Zeit haben sie den Baum zerstört. Andri steht jetzt auf dem Boden und wird von diesen Tieren eingekreist. In Sekundenschnelle verwandeln sie sich wieder zu Menschen, zu Menschen mit schwarzen Pupillen. Sie fangen Andri, der sich nicht wehrt, und überliefern ihn den Soldaten, die wieder aufgetaucht sind. Der Platz leert sich und die Soldaten ziehen ab. Ich schließe meine Augen. Kurze Zeit später öffne ich sie wieder und von dem grellen Weiß istnichts mehr zu sehen. Alles ist schwarz, Häuser, Läden und sogar die Menschen. Es herrscht eine Finsternis. In der Ferne vernehme ich wieder die Stimme des Mannes:

 

„ Andri war Sohn von Can und der Senora,

 

Alle drei starben.

 

Doch helfen konnte ihm am Ende keiner,

 

verloren war er durch unsereiner.

 

Lernet und vergesset nicht,

 

Andorra wird es immer geben,

 

doch lasst es nicht geschehen,

 

hat Mut euch dagegen zu wehren.

 

Dieser Traum endlich zu Ende,

 

 hat gleich morgen seine Fänge.“

 

Zwei erschrockene Augen in der Dunkelheit.

 

                                                                                                                 Jovana R., 10b